Christina Schwann im Gespräch mit einem der bemerkenswertesten Raumplaner unserer Zeit und „Erfinder der Bergsteigerdörfer“
5.2.2018
Du hast von 1980 bis 2013 die Abteilung Raumplanung und Naturschutz des ÖAV geleitet. Besser gesagt: Du hast sie aufgebaut, denn vorher gab es diese nicht. Was war damals der Grund für den ÖAV, eine solche Abteilung einzurichten?
Als ich beim Alpenverein angefangen habe, wartete ein nackter Schreibtisch auf mich. Heinz Höpperger – er war damals noch nicht Generalsekretär – hat sich gemeinsam mit Sachwalter Georg Gärtner persönlich für die Einrichtung der Abteilung eingesetzt. Grund waren die vielen Erschließungsprojekte jener Zeit. Aber auch, weil der Alpenverein schon damals größter Grundeigentümer im Bereich des umstrittenen Nationalparks Hohe Tauern war. Der Alpenverein sollte in der Szene präsenter sein. Es hat jemanden gebraucht, der nicht nur vom Schreibtisch aus agiert, sondern auch an den diversen Verhandlungen vor Ort teilnimmt.
Aber auch Louis Oberwalder – damals erster Vorsitzender des Österreichischen Alpenvereins – war es sehr recht, dass in Sachen Nationalpark etwas passiert. Immerhin war er gebürtiger Virgener (Osttirol), Sohn eines Bergbauern, und er setzte sich dafür ein, dass jemand ein Programm für die Realisierung des Nationalparks ausarbeitet und dieses auch in den Sektionen umsetzt.
Heinz Höpperger ist kurze Zeit später Generalsekretär des Alpenvereins geworden. Sein Interesse am Naturschutz hat er nie verloren – ganz im Gegenteil: Er hat bereits 1987 das erste „Grundsatzprogramm für Naturschutz und Umweltplanung im Alpenraum“ im Rahmen der Hauptversammlung in Bad Hofgastein wesentlich mitgeprägt.
Was würdest Du als positive Meilensteine in Deiner Zeit beim ÖAV bezeichnen, die Du mit Deinem Team erreichen konntest?
Im Bereich des Nationalparks Hohe Tauern hat der Alpenverein zusammen mit den Osttirolern Wolfgang Retter und Anton Draxl sehr viel beigetragen. Dass heute 1.800 km2 in Summe unter Schutz stehen – den Fängen der Energiewirtschaft und der Seilbahnwirtschaft entrissen wurden –, war eine einmalige Sache, die es heute nicht mehr geben wird, weil Flächenschutz heute eher verpönt ist.
1989 kam das Aus für das geplante Riesenkraftwerk an der oberen Isel und im Kalser Dorfertal durch den damaligen Energieminister Robert Graf. 1991 dann der Beschluss der Landesregierung für den Nationalpark in Osttirol – das war ein wunderbares Erlebnis. Dabei war es immer garniert mit besonders interessanten Einzelereignissen, es gab riesige Streitereien in den Gemeinden und mit der Politik.
Schlussendlich hatten wir aber sogar die Möglichkeit, das Nationalparkgesetz mit zu entwerfen. Eigentlich muss man sagen, der Beschluss 1991 war nicht das absolute Highlight, sondern in der Erinnerung ist es die Summe an fantastischen Einzelereignissen.
Mitzuerleben, wie es damals tatsächlich abgelaufen ist, ist im langen Berufsleben, in dem es nicht sehr viele Highlights gegeben hat, eine Sternstunde – eine Gnade möchte ich fast sagen. Ich denke noch heute oft darüber nach und es war eine meiner Hauptaktivitäten als Leiter der Raumplanungs-abteilung beim Alpenverein.
Besonders schön war aber auch die Entstehung der Ruhegebiete in Tirol. Die letzte Verordnung für ein Ruhegebiet – nämlich für die „Wilde Krimml“ kam im Jahr 2000. Auch das Ruhegebiet „Zillertaler Hauptkamm" ist mir in sehr guter Erinnerung, schließlich durfte ich dieses für die Landesregierung selber abgrenzen. Das brachte mir sogar den Beinamen „Kommunist“ ein und damit habe ich es bis in die Zeitschrift „Spiegel“ geschafft. Mit super Leuten vor Ort, wie dem Vorsitzenden der Sektion Zillertal, Paul Steger, und später Gudrun Fischer (heute Steger), die die erste Schutzgebietsbetreuerin in Tirol war – ebenfalls ein Meilenstein in der Geschichte, die Schutzgebietsbetreuung –, gelang es mir immerhin, vom Kommunist zum heutigen Ehrenmitglied des Schutzgebietes zu werden – sosehr hat sich die Bevölkerung heute mit dem „Hochgebirgs-Naturpark Zillertaler Alpen“ identifiziert.
Diese Ruhegebiete sind heute beachtete Bollwerke gegen weitere Erschließungswünsche der Seilbahn- oder auch der Energiewirtschaft!
Was aber am wichtigsten und nachhaltig neben vielen anderen Dingen war, war die Schaffung eines guten Netzwerkes. Tatsächlich ist es gelungen, ein Netzwerk für den alpinen Raum aufzubauen; man hat gewusst, wen man anrufen kann. Dies ist dann später in die Alpenkonvention übergegangen, die ebenfalls keine unerhebliche Rolle spielt, auch wenn sie sich nur an wenigen Dingen so richtig felsenfest manifestiert, wie z.B. dem Art. 11, Absatz 1 des Straßenverkehrsprotokolls. Darin verpflichten sich die Staaten – ohne Ausnahme – keine weiteren hochrangigen Straßen für den alpenquerenden Verkehr zu errichten. Dieser Absatz ist eine gewaltige Weichenstellung gewesen. Von 1993 bis zum heutigen Tag bin ich mit der Frage der Alemagna konfrontiert und ich kann Dir zeigen, wie die Region Veneto das Straßenverkehrsprotokoll bis heute aushebeln will, was bis heute aber nicht gelungen ist. Das ist ein Beispiel dafür, dass die Alpenkonvention ein völkerrechtlich unheimlich wichtiges Umwelttool ist, ein Korrektiv in einer Zeit zunehmender Deregulierung und neoliberaler Ansätze, die sich gewaschen haben.
Auch wenn die Alpenkonvention ein recht steifes Vertragswerk ist, im Falle des Straßenverkehrsprotokolls hat es bisher riesige Gebiete im Süden Österreichs von „Inntalverhältnissen“ verschont.
1986 ist es uns gelungen, den Gletscherschutz ins Kärntner Naturschutzgesetz einzubringen. Dieser Meilenstein und weitere fallen in der Bedeutung im Vergleich zu anderen Großtaten rangmäßig vielleicht etwas ab, sind aber ebenfalls unheimlich wichtig. Immerhin konnte mit dem Gletscherschutz den damaligen Bestrebungen in Kärnten, die Gletscher skitechnisch weiter auszubauen, wirksam entgegnet werden.
Außerdem haben wir es ein einziges Mal in der Alpinen Raumordnung erreicht, sogenannte „Endausbaugrenzen“ von Skigebieten einzuziehen. Damals gab es den Tiroler Raumordnungsbeirat – Untergruppe Erholungsräume – unter LHStv. Ferdinand Eberle, in dem die so genannten Seilbahngrundsätze verhandelt wurden. Die ersten 1992, die zweiten 1996. Jedes Mal gab es ausführliche Verhandlungen im Vorfeld. Dabei ist es zur Begrenzung des Skigebietswachstums gelungen, das Instrument der „Endausbaugrenzen“ einzubringen. Allerdings stand schon damals im Vorwort des Landeshauptmannes Weingartner, dass die jeweiligen Seilbahngrundsätze nur für einen Zeitraum von 10 Jahren Gültigkeit haben werden.
Einsatz für den Nationalpark Hohe Tauern (Archiv Peter Haßlacher)
o.l.: Peter Haßlacher (l.) und Wolfgang Retter (r.) bei Landeshauptmann Eduard Wallnöfer 1982: Als Geschenk überreichen sie ihm ein Buch über den Nationalpark Hohe Tauern, noch bevor dieser beschlossen wurde.
o.m.: Bergprädigt auf der Pebelalm im Umbaltal, 1985
o.r.: Peter Haßlacher zeigt Magra Hubinek, 2. Präsidentin des Nationalrates, das Kalser Dorfertal, 1986
u.l.: Peter Haßlacher und Magra Hubinek mit den Kalser Frauen, die sich für den Nationalpark stark machten, 1987
u.m.: Peter Haßlacher holt Bundesministerin Marlies Flemming zu einem Lokalaugenschein direkt an die Umbalfälle, 1987
u.r.: Über all die Jahre eng mit dem Nationalpark verbunden: Peter Haßlacher vor den Umbalfällen, 1996
Du bist ein „Kämpfer der Alten Generation“. Es gibt Bilder von Dir wo, Du mit Transparenten am Fuße der Umbalfälle stehst und gemeinsam mit den Kalser Bäuerinnen gegen das geplante Wasserkraftwerk am Oberlauf der Isel demonstrierst. Damals mit Erfolg, denn die Verhinderung des Kraftwerks war der Startschuss für den Nationalpark Hohe Tauern, Osttirol. Aktionismus sieht man heute eher wenig. Was hat sich Deines Erachtens geändert?
Aktionismus mit Maß und Ziel hat damals schon dazu gehört – bei Auseinandersetzungen, von denen man überzeugt war. Heute hat das abgenommen. Heute vertraut man auf neue juridische Mätzchen und digitale Kommunikation wie Petitionen. Es ist heute generell schwieriger geworden, sich bei Demonstrationen hin zu stellen. Gerade im Bereich der Tourismuskritik ist jeder irgendwie abhängig und muss aufpassen.
Ich erinnere mich an eine Demonstration damals im Innergschlöß, Osttirol, zurück. Am Vortag hat der Bezirkshauptmann von Lienz angerufen, da die Demonstration natürlich nicht angemeldet war. Er hat uns die Genehmigung dennoch unbürokratisch erteilt und auch noch 10 geheime Sicherheitsbeamten geschickt. Damals hat man mit dem Gegner noch reden können, auch wenn es oft hart war.
Foto: Eröffnung des Gletscherweges Obersulzbachtal im Jahr 1987. (Hans Lerch)
Du bist österreichweit und darüber hinaus ein bekannter Raumplaner und Entwickler vieler neuer Ideen – wie z.B. der schon erwähnten „Endausbaugrenzen“. Der Kampf gegen Erschließungsprojekte brachte dem ÖAV aber bald den negativen Zunahmen „Verhinderer“ ein. War das die Zeit, in der die Idee der „Bergsteigerdörfer“ in Dir reifte?
Vom ersten Tag im Alpenverein war ich mit dem Wort des „Verhinderns“ konfrontiert. Es war das höchste Ziel des damaligen Vorsitzenden Louis Oberwalder nur ja nicht als Verhinderer dazustehen. Er, als Bergbauernbub, wollte selbstverständlich nie als Verhindererder vor der Osttiroler Bevölkerung stehen. Deshalb haben wir 1980-82 auch die „Aktion Virgental“ ins Leben gerufen. Innerhalb von nur zwei Jahren konnten damit die Übernachtungszahlen in Virgen und Prägraten um 40% angehoben werden.
Außerdem bin ich sehr oft auf Franz Senn hingewiesen worden, der sich stark für die Bevölkerung und den Alpintourismus eingesetzt hat. Das war mein geistiges Gepäck, das ich immer im Hinterkopf hatte und als ein wichtiges Ziel des Alpenvereins verstand.
Als das Grundsatzprogramm des Alpenvereins aus dem Jahr 1978 in den 1990-iger Jahren neu verhandelt wurde, wurde auch der Passus aufgenommen, dass es Alternativen zu den herkömmlichen Formen und den Auswüchsen im Tourismus geben soll. Nur, wer hätte das umsetzen sollen? Wir waren in der damaligen Besetzung gerade einmal drei Leute – mein Mitstreiter, die Sekretärin und ich.
Lange hat sich keine gute Gelegenheit geboten, an einer Umsetzung zu arbeiten. Außerdem habe ich aus der Geschichte mit dem Virgental – obwohl das Projekt erfolgreich war – gelernt, dass man sich mit derartigen Projektideen nie in einen laufenden Konflikt einmischen sollte. Damals wollten die Befürworter des Gletscherskigebiets eine Ausweitung auf der Südabdachung des Gletschers durchbringen.
Es braucht eine klare Position vor Ort, die Verantwortlichen müssen einen gemeinsamen Weg gehen. Sonst ist das auf Dauer nicht gut. Dennoch habe ich die Suche nie aufgegeben.
Eines Tages, ich saß am Bahnhof in Chur und wartete auf meinen Zug, bekam ich eine Zeitschrift des Graubündener Tourismus in die Hand. Darin wurde für „kleine und feine Bergdörfer“ geworben. Es handelte sich dabei zum Teil um die wirtschaftlich ärmsten Gebiete der Schweiz.
Ich habe das Heft mitgenommen.
Mit den laufenden Verhandlungen der Alpenkonvention zum Tourismusprotokoll, in dem wortident alles steht, was wir angehen wollten, und der darauffolgenden VI. Alpenkonferenz im Jahre 2000 in Luzern, in deren Rahmen der damalige Umweltminister Wilhelm Molterer alle Protokolle unterzeichnete, schien die Zeit zu reifen. Als ich am 31.10.2000 in Luzern den Zug nach Hause bestieg, fasste ich den Entschluss, wir machen ein Projekt „Bergsteigerdörfer“.
Warum der Name „Bergsteigerdorf“ und nicht vielleicht „Genußdorf“, „Wanderdorf“ oder sonstiges? Was muss ein Bergsteigerdorf „können“?
„Wanderdörfer“ hat es schon gegeben. Der Begriff Bergsteigerdorf ist auf den Alpenverein zugeschnitten, für Gemeinden, die bei Seilbahnerschließungen nicht „dran gekommen“ sind und auch nie werden. Es war ein Begriff, der zu Orten passte, die eine solche neue Entwicklung mit dem Alpenverein gemeinsam durchziehen wollten.
Tatsächlich habe ich über den Begriff nicht lange nachgedacht, ob der nun gut ist oder nicht. Für mich ging es immer um die Verbindung Bergsteigen, Alpenverein und die Berggebietsbevölkerung vor Ort. Zudem war der Begriff nicht verbraucht und noch nicht da.
Bergsteigerdörfer (Ch. Schwann, ökoalpin)
l.: Kartitsch im Tiroler Gailtal
m.: Steinbach am Attersee
r.: Johnsbach im Gesäuse
Wie sah die Anfangsphase der Bergsteigerdörfer aus? War es schwer, in Österreich Orte zu finden, die Deinen Vorstellungen entsprachen?
Anfangs habe ich die Schiene über den CAA (Club Arc Alpin – Dachverband der Alpenvereine) gesucht. Ich bin zu einer CAA-Versammlung nach Mailand gefahren – der damalige Vorsitzende Dr. Grauß war verletzt, ich musste einspringen.
Dort, 2001 oder 2002, habe ich das erste Mal die Idee der Bergsteigerdörfer vorgetragen. Die Schweizer und die Italiener waren eher wenig begeistert. Die Franzosen wollten keine Dörfer, sondern ganze Regionen. Das wäre in Frankreich vermutlich auch gegangen, aber in Österreich hätte ich mich da nicht drüber getraut, denn bei uns kann ein Dorf sehr gut passen, die Region aber überhaupt nicht – siehe das Ötztal mit Sölden und Vent.
Die Reise brachte jedenfalls eine gewisse Ernüchterung. Dennoch bat ich Roland Kals, einen befreundeten Raumplaner, der damals am Institut für Raumplanung an der Universität für Bodenkultur in Wien arbeitete, um seine Einschätzung zum Projekt. Ich hatte mir in der Zwischenzeit Gedanken über eine mögliche Finanzierung gemacht.
Für den Winter 2004/05 planten wir die erste Broschüre mit dem Titel „Kleine und feine Bergsteigerdörfer“. Die Auswahl der Gemeinden war leicht und erfolgte unkompliziert – Roland übernahm den Osten Österreichs, ich den Westen. Das Geld für den Druck haben wir jämmerlich über das Umweltministerium via Umweltdachverband sowie durch kleine Spenden von den Gemeinden zusammengekratzt.
Nachdem wir gesehen haben, dass die Broschüre großen Anklang fand, haben wir uns selber unter Druck gesetzt, haben das Netzwerk spielen lassen, sind nach Wien gefahren, haben mit Gerhard Heilingbrunner, dem damaligen Präsidenten des Umweltdachverbandes, gesprochen, sind bei Josef Pröll, dem damaligen Umweltminister, vorstellig geworden.
Das Projekt Bergsteigerdörfer wurde mit 2008 auf eine solide finanzielle Förderbasis (damaliges Lebensministerium) gestellt. Die Förderschienen des zuständigen Ministeriums standen damals vor allem für landwirtschaftliche Projekte zur Verfügung. Wie konnte darin dieses doch eher touristische Projekt seinen Platz finden?
Franz Maier, damaliger Mitarbeiter des Umweltdachverbandes, und ich haben selber den Text für das Programmheft der Förderschiene „Ländlichen Entwicklung“ entworfen. Ewald Galle, damals wie heute im Lebensministerium zuständig für die Alpenkonvention, hat den Text korrigiert und finalisiert. Im Rahmen einer Vernissage zum Thema „Klima und Gletscher“ in den Räumlichkeiten des Ministers, haben wir den Vorschlag Josef Pröll vorgelegt, denn schließlich musste er die Förderschiene unterstützen.
Ich denke, auch das Ministerium war dankbar und stolz, ein Projekt zu haben, das ein wenig anders war. Es hat gut unter den Gesamtbegriff „Ländlicher Raum“ gepasst. Und wir waren begeistert, als unser Textvorschlag schließlich in Brüssel abgesegnet wurde.
Wie es dann weitergehen sollte, wussten wir auch nicht so genau. Wir hatten wenig Erfahrung mit EU-Projekten. Fakt war jedenfalls, dass die Alpenkonvention umgesetzt werden musste und das Projekt deswegen auch für das Ministerium von Bedeutung war. Die Förderung ermöglichte eine zusätzliche Angestellte, damals Dich, Christina, in der mittlerweile ohnehin schon gewachsenen Abteilung Raumplanung und Naturschutz. Ewald Galle ist zudem immer voll und ganz hinter dem Projekt gestanden, wie die Nachfolge-Förderprojekte bewiesen: Insgesamt wurde das Projekt Bergsteigerdörfer von 2008 bis Mitte 2018 über die Schiene der Ländlichen Entwicklung sehr großzügig unterstützt.
Mein Fazit daraus: Man muss eine Idee haben. Ich wollte den Alpenverein immer aus dem Verhinderer-Eck herausführen und ich hatte immer Sympathie für periphere und schwache Gemeinden. Mit der Alpenkonventionsumsetzung war das Projekt gedanklich stimmig und zeitgemäß.
Du beobachtest den Werdegang der Bergsteigerdörfer ja mit Sicherheit auch über Deine Zeit beim ÖAV hinaus, zumal die Agenden der CIPRA immer wieder Aspekte der nachhaltigen Tourismusentwicklung kreuzen. Wie haben sich die Bergsteigerdörfer Deines Erachtens über die Jahre entwickelt? Wie bewertest Du die Ausweitung über die Grenzen Österreichs hinaus?
Ich bin sehr froh, dass die Geschichte weitergeht. Ich bin überzeugt, dass es ein sehr gutes Projekt für die Umsetzung der Alpenkonvention ist. Es stellt eine Verbindung von Traditionalität und modernen Trends dar.
Ich würde mir aber mehr Präsenz in der Öffentlichkeit erwarten. Auch die Beschränkung auf rein touristische Vermarktungsschienen ist mir zu wenig. Die Gemeinden haben auch noch ganz andere Probleme, bei denen sie Hilfestellung brauchen könnten.
Sehr positiv sehe ich die Ausweitung über die Grenzen hinaus. Slowenien passt perfekt, auch Südtirol. Wie es in Deutschland weitergeht, bleibt spannend. Jedenfalls hat Deutschland viel Potenzial.
Foto: Matsch wurde 2017 zum ersten Bergsteigerdorf Italiens.
(Ch. Schwann, ökoalpin)
Die alpenweite Verankerung der Bergsteigerdörfer müsste aber raschest möglich abgeschlossen werden, denn wenn das zu lange dauert, ist es auch nicht gut. Es ist absolut ein alpenweites Projekt: Derartige unterschiedliche Facetten in den einzelnen Alpinkulturen zu haben, ist hervorragend. Das fördert den gegenseitigen Austausch und regt zu neuen Ideen an. Aber die alpenweite Struktur ist natürlich auch eine riesige Herausforderung, wobei ich der Meinung bin, dass es heute genügend Formate gibt, um das anzugehen.
Das Prädikat „Bergsteigerdorf“ ist nicht in Stein gemeißelt, wie der Fall Kals am Großglockner gezeigt hat, dessen skitouristische und raumplanerische Entwicklung zum ersten Ausschluss eines Bergsteigerdorfes geführt hat. Gibt es auch für die heute bestehenden Bergsteigerdörfer Gefahren oder vielleicht Verlockungen, die ihnen – zumindest im Sinne des Bergsteigerdorfes – zum Verhängnis werden könnten?
Ja, die gibt es immer, und wenn es kommt, dann unerwartet – wie im Fall Kals am Großglockner. Ich hätte nie gedacht, dass das Chaletdorf – Gradonna Mountain Resort – tatsächlich gebaut wird – eine herbe Niederlage.
Aber wie gesagt, das kann immer passieren, das ist eben Alpenraumentwicklung. Franz Rauter, Abteilung Raumordnung-Statistik, Amt der Tiroler Landesregierung, hat es im Zuge eines Vortrages bei der Bergsteigerdörfer-Jahrestagung in Sonntag im Großen Walsertal 2010 sehr treffend formuliert. Er hat nachdrücklich gesagt, dass „die besondere Herausforderung sein wird, in diesem komplexen System der verschiedenen Entwicklungsvorstellungen auf Dauer zu bestehen“.
Das ist sicher ein wahrer Satz, den ich nie vergessen werde. Und die Realität hat uns ja auch schnell eingeholt. Der Fall „Kals“ trat ein Jahr nach erwähnter Tagung ein.
Das Projekt hatte aber immer auch regionalpolitische Ansätze. So findet sich im Tiroler Regierungsübereinkommen von 2013 die Passage, dass die Bergsteigerdörfer eine Barriere für die Erweiterung des Thurntaler-Skigebietes in Osttirol nach Innervillgraten seien. Das ist durchaus bemerkenswert und unterstreicht die Bedeutung der strategischen Auswahl der Bergsteigerdörfer. Und man darf nie vergessen, dass es auch immer eine alpenvereinspolitische Dimension gab, zumindest in den meisten Fällen.
Aber nichts hat ewig Bestand. Es hängt jetzt stark vom Alpenverein ab, welche Kraft und welche Bedeutung er dem Projekt beimisst. Und natürlich, wie wichtig es den Gemeinden ist. Ich bin der Ansicht, es wäre gut, eine Art Verein zu gründen, der eigenverantwortlich mit dem Alpenverein arbeitet, sowie einen Weisenrat, der den Alpenverein und die Gemeinden unabhängig und eben „weise“ unterstützt.
Worin liegen Deines Erachtens die Stärken der Bergsteigerdörfer?
In der Verbindung von Tradition, Bekanntheitsgrad und Eignung für diesen naturnahen Tourismus. Die Gemeinden zeigen eine besondere Sympathie gegenüber dem Bergsteiger, was die Gäste entsprechend spüren. Bergsteigerdörfer stellen den Gegenpool zum Gigantismus und der Anonymität im Tourismus dar, der vielerorts anzutreffen ist.
Die Gemeinden brauchen aber jedenfalls diese Art der Unterstützung, um langfristig ihre Existenz sicher zu stellen – ganz klar. Das übersehen viele Leute.
Was kann man daraus für andere Regionen im Alpenraum ableiten? Könnte man das Projekt auch kopieren?
Ja, ich denke, das Projekt könnte man durchaus auch in anderen Bergregionen anwenden, zum Beispiel in den Karpaten.
Auf der anderen Seite schwören Visionäre der Tourismuswirtschaft auf Superlative, Megaevents und möglichst absurde Ideen. Nicht nur, um den Anschluss nicht zu verlieren, sondern vielmehr um Vorreiter zu sein. Dieser Enthusiasmus baut auf ein schon beinahe an Ignoranz grenzendes Technikvertrauen auf, Beispiel Klimawandel, und natürlich auf die wirtschaftliche Leitidee des steten Zuwachses. Aktuell scheint diese Arte von Tourismus aber sehr gut zu funktionieren. Warum?
Noch ist alles technisch beherrschbar – dem Klimawandel wird mit Beschneiung entgegengewirkt, Wassermangel wird mit riesigen Speicherteichen ausgeglichen…. Solange das technisch irgendwie funktioniert, geht der Zug der Lemminge weiter.
Es funktioniert deswegen so gut, weil das Ganze zu einer hochprofessionellen Industrie mit einem super Marketing, einer wohlgesinnten Politik-, Medien- und Wirtschaftslandschaft geworden ist. Solche Rahmenbedingungen haben andere Branchen sicher nicht. Auch nicht ein derartiges Interesse der Medien – wie z.B. der ORF, der eigene Kanäle für tägliche Berichte von Skigebieten hat. Das haben die Bergsteigerdörfer sicher nicht.
Solange es funktioniert, wird dieser Verdrängungswettbewerb weitermarschieren. Erst heute (5.2.2018) war ein Interview mit dem Tiroler NEOS-Chef im „Standard“ zu lesen. Dabei ging es darum, die topgereihten Skigebiete im Land Tirol zusammenzuschließen: vom Gletscherskigebiet im Stubaital bis ins Kaunertal. Hier ist sehr viel an Fantasterei und Gigantismus dabei und wir sind noch lange nicht am Ende der Fahnenstange. Die Maschinerie ist gut geölt.
Gibt es ein Ausstiegszenario für Tourismusorte wie Ischgl, Meribel oder Sestriere? Wie könnte dieses aussehen? Was würdest Du diesen Orten raten?
So wie ich sie kenne, kann man ihnen nichts raten. Ich würde mich außerstande sehen, ihnen einen Rat zu geben, weil sie diesen nicht annehmen würden. Abgesehen davon ist es auch schwierig, heute eine solche Monostruktur zu verändern.
Wenn, dann bräuchte es einen sofortigen Ausbaustopp und Rückbau mancher Anlagen. Wir sprechen hier aber von einem derart hochgezüchteten System, da ist jeder Rat vergeudete Zeit. Dringend sollen sie angehen: Ökologisierung, solare Energienutzung, sollen sie ihre ganzen technischen Geschichten ausspielen.
Meines Erachtens braucht es einen Erschließungsstopp. Ischgl will weiter Richtung Süden ins Oberengadin – ohne Erschließungsstopp wird es immer so weitergehen.
Wir reden hier von einem begrenzten Raum. Wo siehst Du Tirol im Jahr 2050?
Hier geht es nicht nur um Tourismus. Tirol wird der Vorhof der Metropolregion von München sein. Dann gilt die Nordgrenze von Bayern, wie in der Makroregionalen Alpenraumstrategie schon vorgesehen – und nicht die Grenze des Alpenraums.
Pendler werden sich vermehrt Richtung Rosenheim und München orientieren. Das Inntal wird eine einzige Bandstadt sein, von Kufstein bis Telfs mit Auswüchsen in einzelne Täler.
Im Tourismus wird es einige ganz große Tourismuszentren geben, Tourismus-Freizeit-Parks. Kleinere Gebiete werden entweder ruiniert oder auf ganz kleinem regionalem Level weiterspielen.
Wir werden hart zu kämpfen haben, die wenigen geschützten Naturreserven zu verteidigen. Wenn es um die Existenz der großen Städte geht, dann kümmert sich keiner um Natur. Und wir werden massenverkehrstauglich gemacht. Der Brennerbasistunnel ist meines Erachtens ein Ablenkungsmanöver.
Ich setze auf die großen Naturoasen, die wir hoffentlich bewahren werden können. Jede Gemeinde wird früher oder später vor großen Herausforderungen stehen und sich rechtfertigen müssen, wofür sie zum Beispiel Wasser verwendet – für den täglichen Gebrauch, für Löschwasser, für Kunstschnee oder Bewässerung. In einzelnen Alpenteilen ist dies schon längst Realität.
Lieber Peter, herzlichen Dank für das Gespräch!
Zur Person Peter Haßlacher
Der gebürtige Osttiroler (7.11.1949) war von 1980 bis 2013 Angestellter beim Österreichischen Alpenverein in Innsbruck und hat die Abteilung Raumplanung und Naturschutz aufgebaut und geleitet.
Er war maßgeblich an der Entwicklung der Alpinen Raumplanung in Tirol und darüber hinaus beteiligt. Er hat tatkräftig die Geburt des Nationalparks Hohe Tauern in Kärnten und Osttirol mitbestimmt, hat den Begriff „Ruhegebiet“ mit Inhalten geprägt, war bei der Ausformulierung der Protokolle der Alpenkonvention hautnah dabei und gilt als „Erfinder“ der Bergsteigerdörfer. Ab 2007 war er ehrenamtlicher Präsident der Alpenschutzkommission CIPRA Österreich.
Am 17.10.2019 verstarb Peter Haßlacher viel zu früh nur wenige Wochen vor seinem 70. Geburtstag.
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